Mängel sind „Fall für den Staatsanwalt “

Von Redaktionsmitglied Peter W. Ragge, Mannheimer Morgen

Die Stadträte aller Fraktionen verlangen eine Verstärkung des Rettungsdienstes. Hier ein – von der aktuellen Diskussion nicht betroffener – Mitarbeiter bei einem Einsatz auf den Planken.

„Erschütternd“ fand es Stadtrat Steffen Ratzel (CDU), von „ganz erschreckenden unangenehmen Wahrheiten“ sprach SPD-Kollege Dr. Boris Weirauch, einen „ausgemachten Skandal“ sah Holger Schmid (ML). „Skandalös“ schimpfte Roland Geörg (AfD), und Volker Beisel (FDP) forderte, die Stadt müsse „dringend die Notbremse ziehen“: So reagierten die Kommunalpolitiker, als sie jetzt im Sicherheitsausschuss des Gemeinderates erstmals öffentlich über Missstände im Rettungsdienst debattierten (wir berichteten).

Könnten mehr überleben?

Erster Bürgermeister Christian Specht äußerte sich „dankbar für diese Rückendeckung“. Allerdings händigte er den Stadträten keine schriftlichen Unterlagen aus – ungewöhnlich in solchen Sitzungen. Allein die öffentliche Debatte widerspreche schon der bisherigen Übung, das Thema nur intern im Bereichsausschuss zwischen Krankenkassen und Hilfsorganisationen zu bereden. Die Stadt dürfe dort „nur Fragen stellen, auf die wir manchmal eine Antwort bekommen“. Die Strukturen seien „nicht optimal, um es vorsichtig zu sagen“, sprach Specht von einem „schwierigen Kampf“. Bei der Qualität des Rettungsdienstes als auch der Leitstelle gebe es „Entwicklungen, mit denen wir nicht einverstanden sind“.

Gerade zur Leitstelle fordere er ein Gutachten. Das müsse „klären, wie die Sicherheitsinteressen unserer Bevölkerung gewahrt werden“, so Specht. So lange weigere sich die Stadt, aus Mannheim kommende Notrufe über die „112“ direkt nach Ladenburg umzuleiten. Bisher nimmt sie die Mannheimer Feuerwehr entgegen, doch das Land fordert sogenannte „Bereichsübergreifende Integrierte Leitstellen“ für Feuerwehr und Rettungsdienst. Die von den Gutachtern verlangte Verstärkung des Mannheimer Rettungsdienstes müsse „sofort umgesetzt werden“, so Specht.

Dieses Gutachten erläuterte Dr. Andreas Pitz, viele Jahre Einsatzleiter Rettungsdienst und nun als Berater der Stadt tätig, dem Ausschuss. Dabei sprach er von mehreren methodischen Schwächen des Gutachtens. Während laut Gesetz die Retter in 95 Prozent der Einsätze nicht mehr als zehn, höchstens 15 Minuten brauchen dürfen, lege das Gutachten nur die 15-Minuten-Frist als Maßstab an. Hinzu komme, dass nicht der Eingang des Notrufs, sondern der Abrückebefehl für die Retter gewertet werde. Daher seien „die Zahlen eigentlich noch schlimmer“.

Pitz zitierte eine Landtagsdrucksache, wonach in Mannheim die Rettungswagen nur zu 68 Prozent, die Notärzte nur zu 58 Prozent die Hilfsfrist einhalten. Davon seien Rheinau, Lindenhof, Innenstadt, Neckarstadt, Neckarau und Schönau besonders betroffen. Dass Krankenkassen und Hilfsorganisationen dennoch nicht einmal die an einem Minimal-Maßstab orientierten Vorschläge des Gutachters umsetzen wollten, verwundere ihn sehr. Leitender Notarzt Dr. Tim Viergutz bestätigte „gravierende Probleme“ im Rettungsdienst. Gerade bei Herzstillständen komme es auf jede Minute an, verdeutlichte er anhand von Daten aus dem Deutschen Reanimationsregister. Allein bezogen auf die rund 300 Reanimationseinsätze der zwei Mannheimer Notärzte pro Jahr könnten nach seiner Rechnung, wenn die Hilfe in zehn statt in 15 Minuten komme, zwölf Menschen pro Jahr mehr überleben.

Rückkehr der Feuerwehr

Doch insgesamt fahren die Notärzte 6000 Einsätze pro Jahr. „Es gibt ja auch Fälle schwerer Blutungen oder von Lungenembolie“, warf Ärztin und CDU-Stadträtin Dr. Adelheid Weiss ein. Auch da sei schnelle Hilfe lebensrettend. Die Stadträte rechneten dann – spekulativ – hoch, dass „ein ganzer Bus voll Mannheimer“ noch leben könnte, wenn der Rettungsdienst schneller wäre.

Für Steffen Ratzel (CDU) sind die Mängel daher „ein Fall für den Staatsanwalt“. Auch Roland Geörg (AfD) sah „strafrechtliche Relevanz“, und Dr. Jens Kirsch (CDU) empörte sich: „Da zählen offenbar keine ärztlichen, menschlichen, ethischen Gesichtspunkte, sondern nur finanzielle Interessen!“

Ratzel, Weirauch und Beisel waren sich einig, dass Mannheim eine eigene Leitstelle behalten muss (Weirauch: „Alles andere ist nicht verantwortbar“) und regen an, dass die Feuerwehr wieder in den Rettungsdienst zurückkehrt.

© Mannheimer Morgen, Freitag, 10.10.2014